
Schaffhauser Nachrichten of April 12, 2025
"Das dauernde Ungeheuer muss uns immer wachsend erscheinen",
sagte einst Johann Wolfgang von Goethe über den Rheinfall. Als
der deutsche Dichterfürst diesen besuchte, hatte es wohl nicht
so einen niedrigen Wasserstand wie aktuell, denn wo es normalerweise
"wallet und siedet und brauset und zischt", wie der Deutsche es
beschrieb, tröpfelt und nieselt es nach RheinfallStandard nur.
Allerdings bietet dieses Niedrigwasser auch etwas zu entdecken, was
sicher nur die wenigsten Touristen kennen und auch viele Einheimische
wohl nicht wissen: Denn desto niedriger die Abflussmenge, desto besser
kann man ein Geheimnis des Naturphänomens entdecken, welches der
Wasserfall sonst gut versteckt hält: eine mannshohe Höhle
im Felsen, die bisher nur eine Handvoll Menschen betreten konnten.
Nur eine nachgewiesene Expedition Wer mit dem Zug am Rheinfallbecken
vorbeifährt, kann sie erahnen, so etwa auch Iwan Stössel,
Mitglied der "Naturforschenden Gesellschaft Schaffhausen" und Geologe an
der ETH Zürich. "Ich schaue inzwischen auch täglich auf meiner
Pendlerreise nach Zürich aus dem Zugfenster, ob die Höhle
schon erahnt werden kann", gesteht der Experte. Aber was weiss man
über die Höhle? "Es ist davon auszugehen, dass es sich um eine
alte Kalksteinhöhle handelt, die schon lange vor dem Rheinfall
angelegt wurde, die aber durch den Rheinfall "¹angeschnitten"º und
möglicherweise ausgeräumt wurde", erklärt Stössel. Die
Kalksteine wurden demnach schon vor vielen Jahrmillionen, in der Zeitstufe
Eozän oder auch noch früher, unter warmfeuchten Klimabedingungen
bereits intensiv verkarstet " das bedeutet, dass sich Hohlräume
herausgelöst haben. "Vermutlich entstand die Höhle unter dem
Rheinfall sehr ähnlich", sagt der Experte. Was dort aber genau
hinter den Wassermassen normalerweise verborgen bleibt, ist nicht
ganz klar. Bisher sind nur sehr wenige Personen im Inneren gewesen,
und diese kann man alle leider nicht mehr fragen, denn das war vor mehr
als 100 Jahren. Ein Bild vom Inneren gibt es auch leider nicht, sondern
nur von aussen, wie Stössel sagt: "Es ist mir kein Bildmaterial,
insbesondere keine "¹Innenaufnahme"º, bekannt." Einer derer, der sagen
konnte, wie die Höhle von innen aussieht, war der Zürcher
Geologe Albert Heim, der 1931 eine Abhandlung über die Geologie des
Rheins verfasste. Im Jahr 1921 konnte er mit einem Boot übersetzen
und eintreten. "Schalenförmig von Fels überdacht bildet sie
diese hohle Sprungstufe, unter die man am 3. April 1921 vom Schiff aus
eintreten konnte." Diese habe einen Durchmesser von fünf bis sechs
Metern. Leider hinterliess er keine Bilder und kaum eine Beschreibung
dessen, was er in der Höhle vorfand. Für Stössel ist
das aber kein grosser Verlust. Er glaubt, dass das Innere vermutlich
nicht besonders spektakulär sei. Früher hätte man dort
eventuell Bohnerze finden können, aber diese seien wahrscheinlich
schon lange nicht mehr da. "Bohnuston beziehungsweise das lockere
Bohnerz wurde längst ausgewaschen", sagt Stössel. Selbst
wenn der Rheinfall "tobt", dürfte es im Inneren eher unspannend
sein. "Ich gehe aber davon aus, dass der Innenraum permanent in einen
dichten Wassersprühnebel gehüllt ist. Licht gelangt wohl
nur wenig hinein", sagt Stössel. Sicher wisse er es aber nicht.
Der Rheinfall schützt seine Geheimnisse Um diese Höhle
zu sehen und eventuell trocken zu betreten, braucht es also massives
Niedrigwasser. Im Jahr 1921, als Heim diese untersuchen konnte, war die
Abflussmenge historisch niedrig: Aufzeichnungen aus dieser Zeit sprechen
von Abflussmengen von gerade mal von 95 Kubikmetern pro Sekunde. Aktuell
liegen diese bei circa 173 Kubikmetern pro Sekunde, also fast doppelt so
hoch. Diesen Wert gab es zuletzt im Jahr 1953. Â Ohne einen sehr geringen
Abfluss ist es unmöglich, ins Innere zu gelangen. Laut Stössel
wäre es "mit vernünftigem Aufwand bei normalem Wasserstand wohl
wenig ratsam, in die Höhle hereinzukommen " die Gewalt des Wassers
versperrt den Zugang zur Höhle ziemlich effizient". Da wieder
Regen angekündigt ist, dürfte das wohl auch noch eine Weile
so bleiben.