Das Kätterli von Radegg
Vor vielen hundert Jahren stand hoch über dem Wangental, auf dem
Rossberg bei Osterfingen, eine stolze Ritterburg: die Radegg. Heute
sieht man davon nur noch ein paar alte, verfallene Mauern. Der Wald ist
darüber gewachsen. Föhren, Maulbeerbäume und Ahorn treiben
ihre Wurzeln zwischen die Steine. Hier und da bröckelt ein Stein ab
und poltert in den Burggraben hinab oder springt in wilden Sätzen
den Radeggerhang hinunter. Und es wird einmal eine Zeit kommen, in der
man nicht mehr sieht, dass hier einst Menschen gehaust haben. Dann hat
der Wald ein Geheimnis mehr zu hüten.
In Osterfingen erzählen die alten Leute eine seltsame Geschichte::
Es liegt lange, lange zurück. Damals herrschte auf der Radegg ein
herrischer, streitbarer Ritter. Es war eine schwere Zeit: Das Rittertum
ging seinem Ende entgegen, und Sorge und Not drangen mit ihren mageren
Fingern bald in jede Burg ein. Ritter Diethelm wusste oft nicht mehr,
wie er seine grosse Familie durchbringen sollte. Sieben Buben hatte er,
eine ganze Schar, dazu Knechte und Mägde. Seine Frau, eine fromme,
gute Seele, hatte immer wieder auf ihn eingeredet, er solle nicht mit
Gewalt und Raub durchs Land ziehen, um die schlimmste Not abzuwenden.
Als die Burgfrau erneut in Kindbett lag und dem winzig kleinen Kind,
dem Kätterli, das Leben schenkte, zeigte der Ritter zum ersten Mal
seit langer Zeit wieder ein freudiges Gesicht. Alle, besonders er, hatten
sich ein Mädchen gewünscht. Doch schon eine Woche später
wich die Freude dem Leid: Die Mutter starb im Kindbett.
Von einem Moment auf den anderen war auf der Radegg alles anders. Mit
der Frau verlor der Burgherr auch die letzten Reste von Adel und
ritterlicher Gesinnung. Bald war er zu einem gewöhnlichen
Strauchritter herabgesunken und holte sich, was irgendwo zu holen war
auch wenn es auf unrechte Weise geschah. "Recht hat, wer stärker
ist", pflegte er zu sagen, wenn er mit seinen Knechten die Bauern um ihre
reife Ernte brachte oder wenn er die reichen Schaffhauser Kaufherren,
die mit ihren Wagen durchs Wangental nach Waldshut zogen, überfiel
und ausplünderte. Im finsteren Burgverlies liess er die Gefangenen
schmachten, bis ein Lösegeld eintraf und man sie wieder freiliess.
Die sieben Söhne des Ritters wuchsen ungezügelt wie Unkraut
heran. Die Mutter fehlte ihnen. Bald begleiteten sie ihren Vater auf
seinen Raubzügen. Wie er wurden sie wilde, gewalttätige
und grobe Kerle. Grössere Freude kannten sie nicht, als wenn der
Turmwächter eine neue Warentransportkarawane auf der Wangentalstrasse
meldete oder wenn sie einem Bauern in Osterfingen ein Stück Vieh
vom Feld stehlen konnten. Über solchen Erfolgen saufte und gröhlte
man oben auf der Radegg bis tief in die Nacht hinein und trieb Mutwillen
mit den Gefangenen, die sie aus dem Burgverlies heraufgeholt hatten.
Das Kätterli wuchs unter der Obhut einer alten, treuen Magd namens
Gertrud zu einem hübschen Jungmädchen heran. Gertrud erzog
es im guten Geist und im Glauben an den Herrgott und legte ihm das
ins Herz, was jeden Menschen adelt: Güte, Hilfsbereitschaft und
Liebe zur Kreatur. In ihrem Gärtchen, das man heute noch sieht,
wo ein Kanzleifenster über die Halde hinausblickt, pflegte das
Kätterli ihre Blumen " obwohl die Brüder sie oft auslachten:
"Auf ein Raubvogelnest gehören keine Blümchen, das ist etwas
für kleine Kinder und alte Weiber." Aber das Kätterli ging
still ihren eigenen Weg. Auf Wegen sogar, von denen ihr Vater und ihre
Brüder nichts wissen durften.
Oft, wenn sie fort waren, nahm das Kätterli ein Körbchen am Arm
mit lauter guten Sachen darin " denn inzwischen war man nicht mehr ganz
so arm auf der Radegg " und ging hinab nach Osterfingen oder hinüber
nach Beringen, besuchte die Kranken, tröstete sie und hatte dort,
wo ihre Brüder Leid und Not hinterlassen hatten, für alle
ein gutes Wort und eine offene Hand. Auch die Gefangenen im Burgverlies
pflegte sie und redete ihnen Mut zu, wenn die Leidenszeit in dem dunklen,
feuchten Loch gar zu lang wurde. So kam es, dass man das Kätterli
bald weithin wie eine Heilige verehrte. Sie durfte viel Liebe erfahren,
auch wenn der Hass gegen den Ritter und seine wilden Trabanten immer
grösser wurde.
Eines Tages geriet ein ganz besonderer "Vogel" in die Fänge der
Radegger. An der Kapellensteige hatten sie aus dem Hinterhalt einen
jungen Ritter mitsamt seinem Knappen überrumpelt und gefangen
genommen. Schon an den stattlichen Pferden hatten sie gemerkt, dass
dieser Fang "goldene Federn" hatte. Mit viel Gejohle schleppten sie die
beiden auf die Radegg hinauf und begannen sofort mit dem Verhör:
Wer sie seien und wohin sie wollten. Aber der junge Edelmann verweigerte
jede Auskunft. Stolz stand er im Burghof, und seine schwarzen Augen
musterten die Wegelagerer voller Verachtung. Doch die Radegger machten
keine langen Umstände: "Ab ins Loch mit ihm! Wir können warten,
bis er weich wird."
Dann nahmen sie sich seinen Begleiter vor. Und bald war dieser so weit,
dass er ihnen erzählte, was sie wissen wollten: Der junge, stolze
Ritter stamme aus einem reichen italienischen Adelsgeschlecht und sei
mit einer wichtigen Botschaft an den deutschen Kaiserhof unterwegs!
Zwei Tage später ritt der Knappe wieder südwärts, diesmal
jedoch nur auf einem alten, mageren Klepper. Dafür aber mit einer
Forderung nach Lösegeld für seinen Herrn, dass einem schwindlig
wurde, wenn man nur daran dachte.
Lange musste der Ritter im dunklen Turm warten, und oft zweifelte er,
ob er wohl je wieder aus diesem Loch herauskommen würde. Doch auch
für ihn war das Kätterli Trost und Hoffnung. Es pflegte ihn
wie ein guter Engel und sprach ihm Mut zu in seinen schweren Stunden.
Endlich traf das Lösegeld ein, und der Ritter wurde wieder
freigelassen. Bevor er weiterzog, sass er noch lange mit dem Kätterli
im Gärtlein und sprach ernst mit ihr. Er fragte sie, ob sie nicht
seine Frau werden wolle. Ihr gütiges Wesen, ihre Frömmigkeit und
ihre Liebe gehörten doch nicht hierher, zu diesen rohen Gesellen. Sie
solle mit ihm nach Italien kommen, er wolle sie ewig lieben und auf
Händen tragen.
Das Kätterli schwieg lange. Sie stand vorn im Gärtchen, dort,
wo man weit ins Land hinausblickt. Zwei Mächte rangen in ihr: Liebe
und Pflicht. Wieder einmal war sie ganz allein mit ihrer Entscheidung,
und niemand konnte ihr helfen. Da faltete sie die Hände und betete
lange. Als sie sich schliesslich umdrehte und den fremden Ritter dasitzen
sah, noch bleich und gezeichnet von der Gefangenschaft, wusste sie,
wo ihr Platz war.
"Sieh", sagte sie zu ihm, "du bist mir in dieser schweren Zeit lieb
geworden, und ich glaube, ich hätte es schön mit dir und
könnte ohne Sorge leben. Aber ich kann nicht fortgehen von hier,
wo so viel Leid und Not ist. Wer würde den Menschen helfen und
die Gefangenen trösten? Auch meine Brüder brauchen mich "
vielleicht sogar am meisten. Der Herrgott hat mich hierhin gestellt
und mir eine Aufgabe gegeben, und ich darf ihm nicht davonlaufen, nur
weil ich es schöner haben könnte. So viele brauchen mich, und
ich darf sie nicht im Stich lassen. Ich habe noch nie jemanden so lieb
gehabt wie dich. Aber wenn ich mit dir ginge, müsste ich mein Leben
lang ein schlechtes Gewissen haben, weil ich meiner christlichen Pflicht
ausgewichen wäre. Sei mir nicht böse " ich kann nicht anders."
Der Ritter blieb noch lange beim Kätterli. Auch für ihn
war es schwer. Aber weil er ein gütiger, liebender Mensch war,
konnte er sie verstehen. "Ich werde dich nie vergessen", sagte er,
"und ich werde immer in Liebe an dich zurückdenken."
Dann nahmen sie Abschied. Noch lange blickte das Kätterli ihm
vom Turmfenster aus nach, bis er hinter den Bäumen im Wangental
verschwunden war. Dann senkte sie das Köpfchen und weinte " weinte
wie noch nie zuvor.
Ein Jahr war vergangen. Das Kätterli sass wieder in ihrem
Gärtlein und blickte mit brennenden Augen in die Weite. Da polterte
es am eichenen Burgtor. Und als Baschtian den Riegel zurückschob,
ritt auf einem feurigen Ross ein fremder Ritter in den Burghof. Oder
doch nicht ganz fremd? Es war der Knappe jenes italienischen Ritters, mit
einer Botschaft seines Herrn für das Kätterli. In seiner Hand
trug er einen Strauss Rosen, den er dem Kätterli überreichte "
Rosen von zartblauer Farbe und mit einem wunderbaren, feinen Duft. Sein
Herr, so richtete er aus, könne das Kätterli auch in der Heimat
nicht vergessen, und er lasse anfragen, ob sie nicht doch zu ihm kommen
und für immer bei ihm bleiben wolle. Diese Rosen schicke er ihr
als Zeichen seiner Liebe. Er sei wie närrisch vor Sehnsucht. Der
Ritter habe nämlich zu ihm gesagt: Wenn die Rosen noch blühten,
wenn er auf der Radegg ankäme, dann sei das das Zeichen, dass sie
füreinander bestimmt seien.
Das Kätterli konnte zunächst nichts sagen. Die Tränen
stiegen ihr in die Augen, vor Freude und auch vor Schmerz. Aber sie
konnte dem ssberbringer der Rosen keine andere Antwort geben als die,
die sie ein Jahr zuvor seinem Herrn gegeben hatte: Es ging nicht! Zu viel
Leid herrschte auf der Radegg und im Land. Ihre Brüder trieben es
immer ärger, und es gab nichts Heiliges mehr für sie. Auch als
sie die Rosen sahen, lachten sie schadenfroh über das "Kindskopf",
der ihr Blumen aus der Ferne schickte. Und der italienische Knappe musste
zuletzt sogar froh sein, dass er heil wieder von dannen ziehen konnte.
Dem Kätterli tat es weh, dass ihre Brüder dieses Zeichen
einer tiefen Liebe so verächtlich verspottet hatten. Traurig nahm
sie den Strauss, ging aus der Burg hinaus und stieg die Radegg-Halde
hinunter. An einer verborgenen, stillen Stelle setzte sie sich nieder,
drückte ihr feines Gesichtchen in die blauen Rosen und weinte,
weinte, weinte. Der Schmerz im Herzen wurde immer grösser, die
Verzweiflung immer stärker, und es schien ihr, als könne sie
den Weg nicht weitergehen, den ihr der Herrgott gewiesen hatte. Erst
als sie um Trost betete, wurde es ihr ein wenig leichter.
Aber sie konnte die Rosen nicht mehr zurück in die Burg bringen,
sie konnte den Spott ihrer Brüder nicht länger ertragen,
sie hatte keine Kraft mehr. Da steckte sie die Rosenzweige an jener
verborgenen Stelle in die warme Erde, wo sie vor bösen Menschen
sicher waren. Und immer, wenn ihr das Herz schwer war, stieg sie zu
ihren Rosen hinab, weinte dort und betete und fand Trost und neuen Mut.
Das Schicksal meinte es gut mit dem Kätterli: Die Rosenzweige
schlugen Wurzeln und streckten Jahr für Jahr ihre duftenden, blauen
Blüten der Sonne entgegen. Und tief in ihrem Herzen blühte auch
die Liebe weiter, fein und zart. Jedes Jahr schickte der italienische
Ritter dem Kätterli einen Blumengruss: Orchideen oder Rosen, Diptam
oder andere seltsame Blumenarten aus seiner Heimat. Das Kätterli
kannte für jede dieser Blumen einen verborgenen Ort an der sonnigen,
warmen Halde, und viele von ihnen blühten weiter " Jahr um Jahr.
Die Brüder des Kätterli trieben es immer schlimmer. Gewalt,
Raub und Mord wurden bald zur Tagesordnung. Einmal gerieten sie an einen
reichen Schaffhauser Ratsherrn. Sie folterten ihn bis aufs Blut und gaben
ihn erst nach einer unverschämten Lösegeldzahlung wieder frei.
Da war das Mass voll. In einer stockfinsteren, klirrend kalten
Winternacht stürmten Kriegstruppen aus Schaffhausen und die Bauern
von Osterfingen das Raubnest. Ein Burgknecht, den man fortgejagt hatte,
spielte den Verräter und konnte den alten Torwächter Baschtian
überwältigen. An allen Ecken zündeten sie die Burg an,
keine Maus kam lebend davon. Wie eine riesige Fackel leuchtete das Feuer
ins Land hinaus " als Zeichen der Befreiung von Angst und Not.
Als die Balken schon zu krachen begannen und ganze Wolken von Glutstaub
in die schwarze Nacht hinauswirbelten, rief plötzlich jemand:
"Das Kätterli! Rettet das Kätterli!" In der Aufregung und Eile
hatte man es ganz vergessen. Nun aber war es zu spät. Man wollte
zwar noch in die brennende Burg eindringen, doch es war nicht mehr
möglich. Man hatte das Kätterli noch am Fenster des Turms um
Hilfe rufen sehen. Doch dann brach der Dachstuhl über ihr zusammen,
und das gute Kind musste in den Flammen umkommen.
Der Teufel hatte nicht lange warten müssen, als er kam, um
abzuräumen. Alle, bis auf das Kätterli, nahm er in seinen
Korb. Doch auch sie fand den Weg in den Himmel nicht. Die Liebe zu ihrem
Ritter, die sie tief in sich getragen hatte, war nicht erfüllt
worden. Und ohne Erfüllung gibt es keine Seligkeit.
Und noch heute, wenn man in einer stillen, mondhellen Nacht durchs
Wangental geht, kann man das Kätterli oben auf der Ruine sitzen
sehen, ein weisser Nebelschleier umgibt sie. Dort sitzt sie und betet
für ihre Brüder, weint und wartet auf Erlösung. Sie
wartet auf einen Jüngling mit einem guten, reinen Herzen, auf einen
Ritter ohne Fehl und Tadel. Doch dieser Jüngling muss zuerst die
blaue Rose finden, die jedes Jahr noch blüht, ganz verborgen an der
Radegg-Halde. Und wenn er diese Blume bricht und damit hinaufsteigt zur
einsamen Ruine, und dem Kätterli die Rose in die Hand gibt, dann hat
er den Schlüssel zur Seligkeit " und darf eingehen in die ewige Ruhe.
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