Das Kaetterli von der Ruine Radegg

Die Sage "S` Kätterli vo Radegg" wurde vom Lehrer und Mundarterzähler Otto Uehlinger (1916-2004) auf Schweizerdeutsch erzählt. Hier ist eine Deutsche Fassung. Zuerst eine Zusammenfassung:
Die Sage vom Kätterli von Radegg spielt in einem Rittergut auf dem Rossberg bei Osterfingen. Das Gut wurde einst von dem herrischen Ritter Diethelm und seinen sieben verwilderten Söhnen bewohnt. Nach dem Tod seiner frommen Frau verrohte der Ritter zunehmend und wurde zu einem gefürchteten Raubritter. Seine Tochter Kätterli, vom guten Geist einer Magd erzogen, wuchs hingegen zu einem gütigen, hilfsbereiten Mädchen heran, das heimlich Armen und Gefangenen half. Als ein junger italienischer Ritter gefangen genommen wurde, pflegte sie ihn und gewann seine Liebe. Doch trotz seines Angebots, sie mit nach Italien zu nehmen, blieb sie aus Pflichtgefühl bei ihrer Familie. Ein Jahr später sandte er ihr blaue Rosen als Liebeszeichen, aber auch diesmal entschied sie sich gegen die Liebe und für ihre Verantwortung. Als die Burg schliesslich von Schaffhauser Truppen zerstört wurde, kam das Kätterli ums Leben. Sie erscheint seither als Geistergestalt auf der Ruine und wartet auf Erlösung durch einen reinen Jüngling, der die blaue Rose findet und ihr bringt.

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Das Kätterli von Radegg

Vor vielen hundert Jahren stand hoch über dem Wangental, auf dem Rossberg bei Osterfingen, eine stolze Ritterburg: die Radegg. Heute sieht man davon nur noch ein paar alte, verfallene Mauern. Der Wald ist darüber gewachsen. Föhren, Maulbeerbäume und Ahorn treiben ihre Wurzeln zwischen die Steine. Hier und da bröckelt ein Stein ab und poltert in den Burggraben hinab oder springt in wilden Sätzen den Radeggerhang hinunter. Und es wird einmal eine Zeit kommen, in der man nicht mehr sieht, dass hier einst Menschen gehaust haben. Dann hat der Wald ein Geheimnis mehr zu hüten.

In Osterfingen erzählen die alten Leute eine seltsame Geschichte::

Es liegt lange, lange zurück. Damals herrschte auf der Radegg ein herrischer, streitbarer Ritter. Es war eine schwere Zeit: Das Rittertum ging seinem Ende entgegen, und Sorge und Not drangen mit ihren mageren Fingern bald in jede Burg ein. Ritter Diethelm wusste oft nicht mehr, wie er seine grosse Familie durchbringen sollte. Sieben Buben hatte er, eine ganze Schar, dazu Knechte und Mägde. Seine Frau, eine fromme, gute Seele, hatte immer wieder auf ihn eingeredet, er solle nicht mit Gewalt und Raub durchs Land ziehen, um die schlimmste Not abzuwenden.

Als die Burgfrau erneut in Kindbett lag und dem winzig kleinen Kind, dem Kätterli, das Leben schenkte, zeigte der Ritter zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein freudiges Gesicht. Alle, besonders er, hatten sich ein Mädchen gewünscht. Doch schon eine Woche später wich die Freude dem Leid: Die Mutter starb im Kindbett.

Von einem Moment auf den anderen war auf der Radegg alles anders. Mit der Frau verlor der Burgherr auch die letzten Reste von Adel und ritterlicher Gesinnung. Bald war er zu einem gewöhnlichen Strauchritter herabgesunken und holte sich, was irgendwo zu holen war auch wenn es auf unrechte Weise geschah. "Recht hat, wer stärker ist", pflegte er zu sagen, wenn er mit seinen Knechten die Bauern um ihre reife Ernte brachte oder wenn er die reichen Schaffhauser Kaufherren, die mit ihren Wagen durchs Wangental nach Waldshut zogen, überfiel und ausplünderte. Im finsteren Burgverlies liess er die Gefangenen schmachten, bis ein Lösegeld eintraf und man sie wieder freiliess.

Die sieben Söhne des Ritters wuchsen ungezügelt wie Unkraut heran. Die Mutter fehlte ihnen. Bald begleiteten sie ihren Vater auf seinen Raubzügen. Wie er wurden sie wilde, gewalttätige und grobe Kerle. Grössere Freude kannten sie nicht, als wenn der Turmwächter eine neue Warentransportkarawane auf der Wangentalstrasse meldete oder wenn sie einem Bauern in Osterfingen ein Stück Vieh vom Feld stehlen konnten. Über solchen Erfolgen saufte und gröhlte man oben auf der Radegg bis tief in die Nacht hinein und trieb Mutwillen mit den Gefangenen, die sie aus dem Burgverlies heraufgeholt hatten.

Das Kätterli wuchs unter der Obhut einer alten, treuen Magd namens Gertrud zu einem hübschen Jungmädchen heran. Gertrud erzog es im guten Geist und im Glauben an den Herrgott und legte ihm das ins Herz, was jeden Menschen adelt: Güte, Hilfsbereitschaft und Liebe zur Kreatur. In ihrem Gärtchen, das man heute noch sieht, wo ein Kanzleifenster über die Halde hinausblickt, pflegte das Kätterli ihre Blumen " obwohl die Brüder sie oft auslachten: "Auf ein Raubvogelnest gehören keine Blümchen, das ist etwas für kleine Kinder und alte Weiber." Aber das Kätterli ging still ihren eigenen Weg. Auf Wegen sogar, von denen ihr Vater und ihre Brüder nichts wissen durften.

Oft, wenn sie fort waren, nahm das Kätterli ein Körbchen am Arm mit lauter guten Sachen darin " denn inzwischen war man nicht mehr ganz so arm auf der Radegg " und ging hinab nach Osterfingen oder hinüber nach Beringen, besuchte die Kranken, tröstete sie und hatte dort, wo ihre Brüder Leid und Not hinterlassen hatten, für alle ein gutes Wort und eine offene Hand. Auch die Gefangenen im Burgverlies pflegte sie und redete ihnen Mut zu, wenn die Leidenszeit in dem dunklen, feuchten Loch gar zu lang wurde. So kam es, dass man das Kätterli bald weithin wie eine Heilige verehrte. Sie durfte viel Liebe erfahren, auch wenn der Hass gegen den Ritter und seine wilden Trabanten immer grösser wurde.

Eines Tages geriet ein ganz besonderer "Vogel" in die Fänge der Radegger. An der Kapellensteige hatten sie aus dem Hinterhalt einen jungen Ritter mitsamt seinem Knappen überrumpelt und gefangen genommen. Schon an den stattlichen Pferden hatten sie gemerkt, dass dieser Fang "goldene Federn" hatte. Mit viel Gejohle schleppten sie die beiden auf die Radegg hinauf und begannen sofort mit dem Verhör: Wer sie seien und wohin sie wollten. Aber der junge Edelmann verweigerte jede Auskunft. Stolz stand er im Burghof, und seine schwarzen Augen musterten die Wegelagerer voller Verachtung. Doch die Radegger machten keine langen Umstände: "Ab ins Loch mit ihm! Wir können warten, bis er weich wird."

Dann nahmen sie sich seinen Begleiter vor. Und bald war dieser so weit, dass er ihnen erzählte, was sie wissen wollten: Der junge, stolze Ritter stamme aus einem reichen italienischen Adelsgeschlecht und sei mit einer wichtigen Botschaft an den deutschen Kaiserhof unterwegs!

Zwei Tage später ritt der Knappe wieder südwärts, diesmal jedoch nur auf einem alten, mageren Klepper. Dafür aber mit einer Forderung nach Lösegeld für seinen Herrn, dass einem schwindlig wurde, wenn man nur daran dachte.

Lange musste der Ritter im dunklen Turm warten, und oft zweifelte er, ob er wohl je wieder aus diesem Loch herauskommen würde. Doch auch für ihn war das Kätterli Trost und Hoffnung. Es pflegte ihn wie ein guter Engel und sprach ihm Mut zu in seinen schweren Stunden.

Endlich traf das Lösegeld ein, und der Ritter wurde wieder freigelassen. Bevor er weiterzog, sass er noch lange mit dem Kätterli im Gärtlein und sprach ernst mit ihr. Er fragte sie, ob sie nicht seine Frau werden wolle. Ihr gütiges Wesen, ihre Frömmigkeit und ihre Liebe gehörten doch nicht hierher, zu diesen rohen Gesellen. Sie solle mit ihm nach Italien kommen, er wolle sie ewig lieben und auf Händen tragen.

Das Kätterli schwieg lange. Sie stand vorn im Gärtchen, dort, wo man weit ins Land hinausblickt. Zwei Mächte rangen in ihr: Liebe und Pflicht. Wieder einmal war sie ganz allein mit ihrer Entscheidung, und niemand konnte ihr helfen. Da faltete sie die Hände und betete lange. Als sie sich schliesslich umdrehte und den fremden Ritter dasitzen sah, noch bleich und gezeichnet von der Gefangenschaft, wusste sie, wo ihr Platz war.

"Sieh", sagte sie zu ihm, "du bist mir in dieser schweren Zeit lieb geworden, und ich glaube, ich hätte es schön mit dir und könnte ohne Sorge leben. Aber ich kann nicht fortgehen von hier, wo so viel Leid und Not ist. Wer würde den Menschen helfen und die Gefangenen trösten? Auch meine Brüder brauchen mich " vielleicht sogar am meisten. Der Herrgott hat mich hierhin gestellt und mir eine Aufgabe gegeben, und ich darf ihm nicht davonlaufen, nur weil ich es schöner haben könnte. So viele brauchen mich, und ich darf sie nicht im Stich lassen. Ich habe noch nie jemanden so lieb gehabt wie dich. Aber wenn ich mit dir ginge, müsste ich mein Leben lang ein schlechtes Gewissen haben, weil ich meiner christlichen Pflicht ausgewichen wäre. Sei mir nicht böse " ich kann nicht anders."

Der Ritter blieb noch lange beim Kätterli. Auch für ihn war es schwer. Aber weil er ein gütiger, liebender Mensch war, konnte er sie verstehen. "Ich werde dich nie vergessen", sagte er, "und ich werde immer in Liebe an dich zurückdenken."

Dann nahmen sie Abschied. Noch lange blickte das Kätterli ihm vom Turmfenster aus nach, bis er hinter den Bäumen im Wangental verschwunden war. Dann senkte sie das Köpfchen und weinte " weinte wie noch nie zuvor.

Ein Jahr war vergangen. Das Kätterli sass wieder in ihrem Gärtlein und blickte mit brennenden Augen in die Weite. Da polterte es am eichenen Burgtor. Und als Baschtian den Riegel zurückschob, ritt auf einem feurigen Ross ein fremder Ritter in den Burghof. Oder doch nicht ganz fremd? Es war der Knappe jenes italienischen Ritters, mit einer Botschaft seines Herrn für das Kätterli. In seiner Hand trug er einen Strauss Rosen, den er dem Kätterli überreichte " Rosen von zartblauer Farbe und mit einem wunderbaren, feinen Duft. Sein Herr, so richtete er aus, könne das Kätterli auch in der Heimat nicht vergessen, und er lasse anfragen, ob sie nicht doch zu ihm kommen und für immer bei ihm bleiben wolle. Diese Rosen schicke er ihr als Zeichen seiner Liebe. Er sei wie närrisch vor Sehnsucht. Der Ritter habe nämlich zu ihm gesagt: Wenn die Rosen noch blühten, wenn er auf der Radegg ankäme, dann sei das das Zeichen, dass sie füreinander bestimmt seien.

Das Kätterli konnte zunächst nichts sagen. Die Tränen stiegen ihr in die Augen, vor Freude und auch vor Schmerz. Aber sie konnte dem ssberbringer der Rosen keine andere Antwort geben als die, die sie ein Jahr zuvor seinem Herrn gegeben hatte: Es ging nicht! Zu viel Leid herrschte auf der Radegg und im Land. Ihre Brüder trieben es immer ärger, und es gab nichts Heiliges mehr für sie. Auch als sie die Rosen sahen, lachten sie schadenfroh über das "Kindskopf", der ihr Blumen aus der Ferne schickte. Und der italienische Knappe musste zuletzt sogar froh sein, dass er heil wieder von dannen ziehen konnte.

Dem Kätterli tat es weh, dass ihre Brüder dieses Zeichen einer tiefen Liebe so verächtlich verspottet hatten. Traurig nahm sie den Strauss, ging aus der Burg hinaus und stieg die Radegg-Halde hinunter. An einer verborgenen, stillen Stelle setzte sie sich nieder, drückte ihr feines Gesichtchen in die blauen Rosen und weinte, weinte, weinte. Der Schmerz im Herzen wurde immer grösser, die Verzweiflung immer stärker, und es schien ihr, als könne sie den Weg nicht weitergehen, den ihr der Herrgott gewiesen hatte. Erst als sie um Trost betete, wurde es ihr ein wenig leichter.

Aber sie konnte die Rosen nicht mehr zurück in die Burg bringen, sie konnte den Spott ihrer Brüder nicht länger ertragen, sie hatte keine Kraft mehr. Da steckte sie die Rosenzweige an jener verborgenen Stelle in die warme Erde, wo sie vor bösen Menschen sicher waren. Und immer, wenn ihr das Herz schwer war, stieg sie zu ihren Rosen hinab, weinte dort und betete und fand Trost und neuen Mut.

Das Schicksal meinte es gut mit dem Kätterli: Die Rosenzweige schlugen Wurzeln und streckten Jahr für Jahr ihre duftenden, blauen Blüten der Sonne entgegen. Und tief in ihrem Herzen blühte auch die Liebe weiter, fein und zart. Jedes Jahr schickte der italienische Ritter dem Kätterli einen Blumengruss: Orchideen oder Rosen, Diptam oder andere seltsame Blumenarten aus seiner Heimat. Das Kätterli kannte für jede dieser Blumen einen verborgenen Ort an der sonnigen, warmen Halde, und viele von ihnen blühten weiter " Jahr um Jahr.

Die Brüder des Kätterli trieben es immer schlimmer. Gewalt, Raub und Mord wurden bald zur Tagesordnung. Einmal gerieten sie an einen reichen Schaffhauser Ratsherrn. Sie folterten ihn bis aufs Blut und gaben ihn erst nach einer unverschämten Lösegeldzahlung wieder frei.

Da war das Mass voll. In einer stockfinsteren, klirrend kalten Winternacht stürmten Kriegstruppen aus Schaffhausen und die Bauern von Osterfingen das Raubnest. Ein Burgknecht, den man fortgejagt hatte, spielte den Verräter und konnte den alten Torwächter Baschtian überwältigen. An allen Ecken zündeten sie die Burg an, keine Maus kam lebend davon. Wie eine riesige Fackel leuchtete das Feuer ins Land hinaus " als Zeichen der Befreiung von Angst und Not.

Als die Balken schon zu krachen begannen und ganze Wolken von Glutstaub in die schwarze Nacht hinauswirbelten, rief plötzlich jemand: "Das Kätterli! Rettet das Kätterli!" In der Aufregung und Eile hatte man es ganz vergessen. Nun aber war es zu spät. Man wollte zwar noch in die brennende Burg eindringen, doch es war nicht mehr möglich. Man hatte das Kätterli noch am Fenster des Turms um Hilfe rufen sehen. Doch dann brach der Dachstuhl über ihr zusammen, und das gute Kind musste in den Flammen umkommen.

Der Teufel hatte nicht lange warten müssen, als er kam, um abzuräumen. Alle, bis auf das Kätterli, nahm er in seinen Korb. Doch auch sie fand den Weg in den Himmel nicht. Die Liebe zu ihrem Ritter, die sie tief in sich getragen hatte, war nicht erfüllt worden. Und ohne Erfüllung gibt es keine Seligkeit.

Und noch heute, wenn man in einer stillen, mondhellen Nacht durchs Wangental geht, kann man das Kätterli oben auf der Ruine sitzen sehen, ein weisser Nebelschleier umgibt sie. Dort sitzt sie und betet für ihre Brüder, weint und wartet auf Erlösung. Sie wartet auf einen Jüngling mit einem guten, reinen Herzen, auf einen Ritter ohne Fehl und Tadel. Doch dieser Jüngling muss zuerst die blaue Rose finden, die jedes Jahr noch blüht, ganz verborgen an der Radegg-Halde. Und wenn er diese Blume bricht und damit hinaufsteigt zur einsamen Ruine, und dem Kätterli die Rose in die Hand gibt, dann hat er den Schlüssel zur Seligkeit " und darf eingehen in die ewige Ruhe.

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Publiziert: 5/3/2025